REICH
Prof. Wilfried Köpke
Eröffnungsrede
Weiße Halle der Eisfabrik Hannover, 01.Mai 2016
¿No es el recuerdo la impotencia del deseo? Luis Cernuda
Ding
Auf den ersten Blick ist es ganz klar. Das Ding in der Weißen Halle der Eisfabrik ist ein Dachstuhl: Balken, flüchtig geweißt, mit schweren Schrauben verbunden und dann mit SPAX-Schrauben angesetzte Dachlatten. Dann die erste Irritation: der Dachstuhl steht verkehrt, der Giebel zeigt zum Boden und je mehr man sich nähert, in die Konstruktion eintritt, desto mehr verflüchtigt sich, zerbricht der erste Eindruck: Die Dachbalken sind nicht massiv; die SPAX-Schrauben halten nicht die Dachlatten, sondern die Abstandhalter zwischen den „Balken“-Brettern; die Dachlatten sind nicht fest montiert, sondern eingehängt an gebogenen Schraubhaken; die Balken selbst, geht der Blick nach oben hängen an Ketten mit Ösen an den alten Stahlträgern der Eisfabrik. Leicht bewegt sich die Konstruktion, wenn man sie streift, ein feines Schattenspiel tanzt flirrend über den Boden. An den „Dachlatten“ hängen Architektenzeichnungen, sauber aufgefaltet aus der Architektenfaltung als kämen die Pläne geradewegs aus einem Bauordner. Schaut man näher hin, sind es stark vergrößerte Fragmente eines Einfamilienhausplans, die man aber bei keinem Versuch in der Linie oder in der Diagonalen zu schauen, wieder zu einem Ganzen zusammen sehen kann. Wie man als Betrachter, als Betrachterin überhaupt nie das Ganze in den Blick bekommt, weder von außen – noch weniger von innen. Der Titel „Reich“ erklärt auch nicht mehr. Und die Brief- und Tagebuchzitate von Schriftstellern, die ausliegen, geben auch nur vage Hinweise. Offensichtliches trifft Verborgenes. Das soll so sein.
Annette Voigt hat die Weiße Halle gewandelt. Nicht „ver“-wandelt sondern „ge“-wandelt. Dazu später mehr.
Annette Voigt ist Bildhauerin. Sie hat in Nürnberg und Toronto Kunst studiert, mit den Schwerpunkten Textilkunst und Bildhauerei. Und auch in ihren Installationsarbeiten, die sie in den vergangenen Jahren umgesetzt hat, sind diese Ursprünge zu erkennen: die Arbeiten brauchen den ganzen Raum, arbeiten mit der 360°-Perspektive des Betrachters, der immer „drin“ ist und sie spielen mit der Wiederholung, dem Ornament. Die Stoffe sind allerdings alltäglich. In jedem Baumarkt zu bekommen. Und schon bei den Materialien merkt man: Kunst und Leben gehören zusammen bei Annette Voigt. Allerdings nicht billig, nicht ungebrochen. Vieles bleibt Fragment: die Architektenplanausschnitte, die schwebenden Dachlatten, die instabile Gesamtkonstruktion, die flüchtige weiße Lasur. Und darin nimmt sie das Fragmentarische der Weißen Halle auf: schauen Sie auf die abblätternde Farbe, die verrosteten Rohre, die funktionslosen Laufschienen, den eingesetzte Tanzboden, die in den Raum geknallten Kloboxen…
Erinnerung
Das alles hat Annette Voigt mit ihrer Arbeit „ge“wandelt. In der katholischen und der orthodoxen Kirche ist Lehrmeinung, dass durch das Wort des Priesters die Hostie, ein paar Gramm Mehl, Wasser, gebacken zu einem geschmacklosen, münzgroßen Brotstück und ein Schluck Wein „wahrhaft Leib und Blut Christi“ werden. Da kann man nun lange drüber nachdenken, und haben Theologen seit Jahrhunderten, was das nun meint: Hat es nur seine Bedeutung geändert oder – wie die scholastische Philosophie und Theologie mein – sein Wesen, eine Transsubstantiation? Behauptet wird: das Fragment ist alles, auch wenn man das Ganze nicht erkennt. Auch in der Arbeit von Annette Voigt sieht man nur „Teilstücke, das Ganze erschließt sich nicht und entzieht sich“.i Erst wer zwei, drei Schritte zurück geht, die Dinge im Kontext sieht erkennt mehr – oder wer sich reinbegibt, Teil davon wird, erfühlt die Bedeutung. Stehen Sie direkt vor der Latte und dem Plan – nicht mehr als ein Brett vor dem Kopf, inkl. Gebrauchsanweisung. Treten Sie zurück, erkennen Sie den Dachstuhl, den Hausplan; gehen Sie durch verschwindet Anfang und Ende, sie werden Teil und das ist manchmal unheimlich, die von außen fest aussehende Konstruktion bewegt sich, wird fragil, rätselhafter und Sie beginnen sich zu erinnern: An die Besuche auf dem eigenen Speicher, dem Spielen als Kind auf dem Dachboden, staubig, drückend warm, geheimnisvoll. Was umgangssprachlich die „Leiche im Keller“ii ist häufig der Koffer oder die Kiste auf dem Dachboden. Erinnerungen brechen auf, wenn man nach Jahren oder Jahrzehnten Fotos, Briefe, Kleidungsstücke, Schallplatten, Bücher wieder entdeckt. Und tragen Sie sie dann runter vom Dachboden in die Wohnräume aus dem Vergessen in das Jetzt erleben Sie, dass man Erinnerung kaum teilen kann. Dem „Weißt du noch….“ -folgt oft das „Das war doch ganz anders…“. Erinnerungen bleiben verschoben, flirrend und kaum zu fassen. Es beginnt schon, dass einem die aus Kindertagen erinnerten weiten Räume plötzlich niedrig und eng vorkommen. Erinnerung ist fließend, fragmentarisch, lässt sich nicht festhalten. Nicht einzuholen ist, was man gerne aktuieren würde. „Wenn die Erinnerung derart auf der eigenen Spur | Zurückgeht (Ist nicht die Erinnerung die Ohnmacht der Sehnsucht?), | So deshalb, weil das Alter sie, wie auch mich, bezwingt ….“, beschreibt Luis Cernuda das in seinem Gedicht Die Inseln.iii
Aktion
Die vergrößerte und zerschnittene Architektenzeichnung ist der Grundriss des Elternhauses von Annette Voigt. Das Haus gibt es nicht mehr. Es ist abgerissen. Es gibt nur noch diesen Plan – und die Erinnerungen.
Für die Betrachter ist dieser biografische Bezug der Künstlerin nicht wichtig. Der Raum ist keiner „der stillen, kontemplativen Anschauung“, sondern ein Handlungsraum.iv Sie können diesen Raum selbst erleben, entdecken, verinnerlichen, besetzen. Sie gehen durch die Konstruktion und versuchen erst nichts zu berühren, trotzdem bewegt sich etwas, dann fassen Sie das schwere Papier an und versuchen zu entziffern, zusammenzuziehen mit den anderen r reaAusschnitten. Sie entdecken Schriftzüge wie Eltern(schlafzimmer), Kinder(schlafzimmer), Einstellplatz (heute wäre das der Carport). Und sie belegen diese Fragmente mit ihren eigene Erinnerungen und Sehnsüchten und Ängsten. Den Fundstücken Ihres Dachbodens. Sie werden Teil der Installation und die Installation wird individuell Ihre. „Combines“ hat Robert Rauschenberg seine Materialkollagen genannt und verfolgte in vielen das „Interesse an der Schaffung interaktiver Environments, in denen der Betrachter und das Kunstwerk aufeinandegieren“v.
Annette Voigt konstruiert und kombiniert sehr viel puristischer. Sie übernimmt keine Ready mades wie Marcel Duchamps. Sie schafft mit alltäglichen Materialien neue, vermeintlich bekannte, Räume in Bezug zum vorhandenen – und entlässt sie in die Abstraktion, in die Offenheit für den Betrachter.
Wie ironisch und gebrochen, wie offen das auch sein darf, darauf verweist der Titel der Arbeit „Reich“. „Reich“ als Gegenteil von „arm“ und dann: der Reichtum des Einfamilienhausbesitzers? Oder reich an Erinnerungen oder der Reichtum des Bauhauskunden, für den es immer was zu tun gibt? Oder mein Reich ist mein Haus, in Abwandlung eines englischen Sprichwortes.vi Der Titel erklärt nicht das Werk, er entlässt den Betrachter in die Entdeckung.
Am Ende der katholischen Messe, aus der ich mir schon die Wandlung als
Erklärungsmuster geliehen hatte, heißt es als Aufruf wie als Auftrag: Ite, missa est: so geht, es ist fertig. Nur fertig wird man damit nie, wenn Annette Voigt einen Raum verwandelt, denn er
wandelt nicht nur den realen Raum der Weißens Halle der Eisfabrik sondern auch die eigenen Innenräume. Da gibt es viel und vieles zu entdecken.
Wilfried Köpke
iAnnette Voigt im Gespräch mit dem Autor am 23. April 2016.
iiLiterarisch 1978 bedrückend umgesetzt von Ian McEwan in The Cement Garden.
iiiJ.M. Castellet und Pere Gimferrer: Generation von 27. Gedichte, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1984, 127
ivCarsten Probst zur Installation Zeitarbeit von Annette Voigt, 2014.
vSusan Davidson: Art and Technology, in: Robert Rauschenberg. Retrospektive, Ostfildern (Hatje) 1998, 290
viMy home is my castle.