Eintreten und Einsehen
Dr. Arie Hartog
Text für den Katalog: Spur der Steine, 2019
Der Pavillon des Gerhard-Marcks-Hauses ist ein kleines klassizistisches Gebäude mit einem quadratischen Grundriss neben dem Museum. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert als öffentliche Bedürfnisanstalt gebaut, wurde daraus in den 1990er-Jahren ein Ausstellungsraum. Er ist der Satellit des Museums. Ursprünglich war die Idee, das dort ausschließlich Bremer Bildhauer ihre Arbeiten zeigen, inzwischen hat sich der Akzent in Richtung von ortsbezogenen Installationen für diesen besonderen Raum verschoben. Die Künstler, die dort ausstellen, kommen längst nicht mehr nur aus Bremen. Und während das Museum Bildhauerei in all ihren Facetten ausstellt, zeigt es im Pavillon Installationen. Nicht als absolute Gegensätze, sondern als zwei unterschiedliche Strategien, räumliche Kunst zu machen. In beiden Fällen geht es um nachvollziehbare Ordnung, im ersten ist der Ausgangspunkt ein herzustellendes Objekt, im zweiten eine vorgefundene Situation.
Die ursprüngliche Funktion des kleinen Gebäudes ist nicht mehr sichtbar, spielt aber doch in vielen Präsentationen eine Rolle. Mit ihrer Installation „nass“ und der dazugehörigen Videoarbeit, die verschiedene Menschen beim Händewaschen beobachtet, positioniert sich Annette Voigt in diese Reihe. Die Installation ist vierteilig: Abfussrohre, Video, Papiersteine, und Schläuche. Auf den Wänden befindet sich ein geschlossenes System von Abflussrohren, das von innen wie ein Käfig anmutet. Der modulhafte Aufbau lenkt den Blick auf die unregelmäßige Struktur der Architektur und im Raum entsteht der Eindruck, dass zwei Ordnungssysteme, die beide aus dem Lot sind, miteinander konkurrieren und sich gegenseitig beeinflussen: Als würden die Rohre gegen die Wand drücken und das Gebäude in eine Schieflage bringen. Diese Wirkung ist durch die Dichte der Installation so kräftig, dass sie mit großer Selbstverständlichkeit neben dem Video (inklusive Soundspur) standhält. Der moderne Mensch schaut erst einmal auf bewegte Bilder, heißt es, und gerade in Ausstellungssituationen geht das oft zu Lasten der unbeweglichen und farblosen Bildhauerei. Annette Voigt beweist hier, dass das kein Gesetz sein muss. Es ist kein Overkill an Material, der die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, sondern die gewählte Ordnung und die sofort sichtbare Irritation, wo vorhandene Module auf vorgegebene räumliche Zusammenhänge (Heizung, Dachbalken) stoßen. Solche Akzente springen ins Auge. Der Bildschirm ist auf der Höhe eines imaginären Waschbeckens befestigt, sodass Betrachter, die es sehen wollen, zurückweichen, womit die anderen Elemente in das Blickfeld rücken. Ein Besucher nimmt nie nur das Video wahr. Die gesamte präzise komponierte Installation ruht auf Papiersteinen, ein effektives Markenzeichen der Künstlerin, das sie auch an anderer Stelle im Museum einsetzt. Auf der gleichen Höhe wie das Video hängen drei sichtbar gefüllte Wasserschläuche mit je zwei Hähnen. Damit gibt es drei geschlossene Kreisläufe im Raum: Abflussröhren, Videoloop und die Schläuche. Die ständig hörbare Tonspur verbindet sich mit allen drei.
Zwischen Museum und Satellit befindet sich ein Hof, mit einigen Figuren von Gerhard Marcks (1889–1981). Da wird es interessant zu wissen, dass Voigt bei Christian Höpfner (1939-2014), dem letzten Assistenten von Marcks, in Nürnberg studiert hat. Sie kennt die figürliche Tradition und hat sie komplett abgelegt. Hier aber suchte sie eine Verbindung. Sie schlug vor, direkt auf Werke von Marcks zu reagieren. Indem sie einige seiner Steinskulpturen teilweise einhaust, lenkt sie den Blick auf inhaltliche und formale Aspekte seines Werks. Das entspricht dem Eingriff im Pavillon, nur sind Betrachter geneigt, Bronze- und Steinfiguren anders zu werten als Architektur. Ein verdecktes Fenster oder ein verhülltes Knie verhalten sich in der Wahrnehmung unterschiedlich. Das Knie drängt sich in den Vordergrund. Das Einzäunen macht Skulpturen sichtbar, die schon fast 30 Jahre meistens unbeachtet auf dem Hof stehen, darunter die „Aliena“ von 1969. In ihr wiederholte Marcks eine in den 1940er-Jahren zerstörte Steinskulptur nach einem jüdischen Modell und spielte im Titel sowohl auf den germanischen wie auf den lateinischen Wortstamm des Mädchennamens an. In der ersten Tradition bezeichnet das Wort die Schöne, in der anderen die Fremde. Voigt liest den Titel zuerst im zweiten Sinn, zäunt die Figur ein und lenkt damit das Nachdenken auf heutige politische Zusammenhänge und Geschichte: Die Schöne wird als Fremde eingesperrt. Die „Betende“ von 1928 ist weniger eng eingezäunt. Kundige Betrachter werden daran erinnert, wie abenteuerlich diese Figur in einem Verschlag von Halle nach Bremen gekommen ist, aber wichtiger sind hier die Öffnungen, die Blicke auf den Stein und auf die Spuren der Bearbeitung zulassen. Die Lücken sind ein Angebot: Schau hier.
Im dritten Teil ihrer Ausstellung hat Voigt im Museum Bronzefiguren von Marcks mit ihren Papierbausteinen eingebaut. Sie gestattet durch gezielte Öffnungen jeweils Einblicke auf Details der Plastik und sie lenkt die Aufmerksamkeit auf den für Marcks zentralen Begriff des „Modelé“. Dahinter verbirgt sich eine berühmte, oft in vielen Varianten erzählte Anekdote von Auguste Rodin (1840–1917), der den Gästen in seinem Atelier den abgebrochenen Zeh einer gotischen Skulptur zeigte. Aus der Wirkung dieses Details könne man auf die ursprüngliche Figur schließen und daraus folgte der Anspruch, jedes Einzelteil plastisch so zu gestalten, dass die Kraft des gesamten Zusammenhangs darin enthalten sei. Heutige Besucher schauen eher auf Videos, als dass sie wahrnehmen, wie straff, weich oder kantig die Innenseite eines Unterarms gestaltet ist. Indem Voigt diese figürlichen Elemente mit ihren Papiersteinen in Kontrast setzt, macht sie sie sichtbar. Aus dem Arm mit dem Apfel schließen Betrachter auf die gesamte Plastik. Umgekehrt aber stellt Voigt ihre radikal einfachen Strukturen gegen die Figuren von Marcks und es ist diese sprechende Wechselwirkung zwischen Ablehnung und Respekt, die aus den Papierskulpturen mit ihrem Innenleben ein Seherlebnis macht.
Annette Voigt steht in der Tradition der Antikunst, die ihre Materialien bewusst dort herholt, wo Kunst nach allgemeinem Verständnis nicht herkommt. Mit diesen schafft sie eine nachvollziehbare Ordnung, die eher in Richtung der abstrakten Geometrie und ihrer Geschichte weist. Sie greift sorgfältig in historisch gewachsene Zusammenhänge ein, verdeckt und macht sichtbar. Der Betrachter tritt ein und erhält Einblicke.